Ist digitaler Stress ansteckend?
Ja, digitaler Stress kann tatsächlich ansteckend sein. Dieses Phänomen ist bislang kaum erforscht, denn bisher wurden nur intrapersonelle Effekte (Auswirkungen innerhalb einer einzelnen Person) im Bereich digitaler Stress untersucht. Dabei wurden u.a. folgende Fragen erforscht: Warum entsteht digitaler Stress? Was sind die Konsequenzen von digitalem Stress? Im Teilprojekt C07 sind wir über diese Fragen hinausgegangen und haben interpersonelle Effekte (zwischenmenschliche Auswirkungen) betrachtet. Das bedeutet, dass sich der digitale Stress beispielsweise von Alex Arbeitskollegin Sarah auch auf andere Kolleg*innen auswirkt – unter anderem auf Alex.
Angesteckt vom digitalen Stress anderer
Grundsätzlich gibt es zwei Arten der Ansteckung mit digitalem Stress. Die Bedingung für beide Möglichkeiten ist, dass sich die Personen gut kennen. Für Alex und Sarah bedeutet es, dass sie bei der Arbeit eng zusammenarbeiten und dort viel Zeit miteinander verbringen.
1. Möglichkeit (emotionale Ansteckung): Sarah arbeitet schon den ganzen Vormittag mit einem Kundenmanagement-System und verzweifelt, weil sie seit dem Update die Kundendatenbank nicht mehr öffnen kann. Deshalb ruft dieses System bei ihr digitalen Stress hervor, der für Unzufriedenheit und Frustration sorgt. In der Mittagspause trifft Alex Sarah und nimmt ihre negativen Emotionen durch ihren Gesichtsausdruck und ihre Körpersprache wahr. Wie man aus der Psychologie weiß, führt dies dazu, dass Sarah die Emotionen spiegelt und selbst Stress-ähnliche Reaktionen zeigt.
2. Möglichkeit (kognitive Ansteckung): Auch hier trifft Alex auf Sarah. Diesmal besucht Alex sie in ihrem Büro und sieht, wie frustriert Sarah von der Arbeit mit dem Kundenmanagement-System ist. Da beide sich gut kennen, schlussfolgert Alex, woher die negativen Emotionen kommen: „Sarah ist frustriert von dem System.“ Durch die Schlussfolgerung bildet Alex eine ähnliche Wahrnehmung wie Sarah von der digitalen Technologie: „Es ist schwierig, mit dem System zu arbeiten.“, was daher bei ihr, die auch mit dem System arbeiten muss, digitalen Stress produziert.
Unterschied zwischen eigenem und fremdem digitalem Stress
Unsere Studien bestätigen, dass es signifikante Effekte bei zwischenmenschlichem digitalem Stress gibt: Sarahs digitaler Stress beeinflusst Alex Empfinden von digitalem Stress und damit auch Alex Technologienutzung. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass die Folgen bei interpersonellem und intrapersonellem digitalem Stress ähnlich sind. Beide Formen von digitalem Stress rufen Unzufriedenheit, Frust und schlechte Performance hervor. Anders ausgedrückt: Alex erlebt Sarahs digitalen Stress als wäre es der eigene. Daraus folgt, dass das soziale Umfeld, neben den digitalen Technologien am Arbeitsplatz selbst, ein weiterer digitaler Stressor ist. Weiter bedeutet es, dass die digitale Technologie sogar gut sein kann, man sich aber von dem digitalen Stress der Arbeitskolleg*innen anstecken lässt. Deshalb ist es wichtig, diese neue Ursache gesellschaftlich in den Fokus zu nehmen und zu erkennen, dass nicht nur die digitalen Technologien das Problem sind.
Immun gegen Ansteckung
Digitaler Stress ist keine Krankheit im klassischen Sinn, dennoch gibt es Faktoren, die eine Ansteckung begünstigen. Wo man ansetzen kann, hängt von der Art der Ansteckung ab. Bei Möglichkeit 1, der emotionalen Ansteckung, kann man leider direkt wenig dagegen machen, weil das Spiegeln von Emotionen eine affektive Reaktion des Menschen ist, die automatisch bei nahestehenden Personen passiert. Allerdings hängt das Ausmaß des Spiegelns der Emotionen von individuellen Eigenschaften, wie Empathie und Sympathie, ab. Daher könnte man versuchen dieses Wissen zu berücksichtigen, z.B. beim Bürodesign (Wer sieht wen?), mehr Homeoffice und weniger Großraumbüros für Anfällige oder resistentere Schulungspersonen als Coaches. Bei Möglichkeit 2, der kognitiven Ansteckung,kann man beim Selbstvertrauen ansetzen: Neben Alex arbeitet Sarah eng mit Waltraud zusammen, die auch ihre Probleme mit dem Kundenmanagement-System mitbekommt. Jedoch lässt Waltraud das nicht so stark an sich ran und denkt: „Ich arbeite schon lange mit dem System und habe viele Schulungen dazu gemacht. Irgendwie bekomme ich das hin!“ Auch wenn Alex bisher gut mit dem System zurechtgekommen ist, verlässt Alex sich wegen des mangelnden Selbstvertrauens auf Sarahs Wahrnehmung und denkt: „Oh nein, wenn das so schwierig ist, dann mache ich doch etwas falsch?“ Deshalb können Unternehmen an diesem Problem ansetzen, indem sie ein Bewusstsein für die Thematik schaffen und das Selbstvertrauen der Arbeitnehmenden im Umgang mit digitalen Technologien fördern. Außerdem sollte man den Fokus auf zentrale Personen legen, mit denen viele Kolleg*innen engen Kontakt haben, damit diese wenig gestresst sind und somit andere nicht anstecken.
Zukunft der Erforschung von ansteckendem digitalem Stress
Da dieser Forschungsbereich noch wenig erforscht ist, gibt es einige offene Fragen: Wenn sowohl Alex als auch Sarah digitalen Stress erleben, mündet dieser dann in einer Digitalen-Stress-Spirale? Gibt es organisationale und kulturelle Faktoren in Unternehmen, die digitalen Stress eher ansteckend machen? Welcher Personentyp ist für welche Art der Ansteckung mehr oder weniger anfällig? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen den beiden Ansteckungsarten? Inwieweit kann auch positiver digitaler Stress ansteckend sein? Mit solchen Fragen werden wir uns in Zukunft beschäftigen.
Das Wichtigste auf einen Blick
- Digitaler Stress kann ansteckend sein, zum Beispiel am Arbeitsplatz.
- Die Ansteckung kann durch Aufnehmen der Emotionen oder Probleme anderer erfolgen.
Autorin: Dana Schmauser