Was passiert bei digitalem Stress im Körper?
Der Puls rast, der Kopf wird rot und die Hände zittern – nur wenigen Arbeitnehmer*innen sind diese Empfindungen beim Öffnen ihres E-Mail-Postfachs unbekannt. Spätestens nach der Mittagspause erscheint der Stapel an noch zu erledigenden Aufgaben unüberwindbar – ein typisches Beispiel für digitalen Stress. Dieser kann mit körperlichen Stressreaktionen einhergehen und langfristig ein Gesundheitsrisiko darstellen. Die Teilprojekte B04 und B05 haben sich mit den biologischen Stressreaktionen im Körper auseinandergesetzt. Das Ergebnis: Die Reaktion auf Stress ist evolutionär in uns verankert, kann aber individuell variieren.
Der Körper in Alarmbereitschaft
Unsere Reaktion auf Stress ist ein Erbe der Evolution: In einer Kampf-oder-Flucht-Reaktion bereitete uns unser Körper auf die Konfrontation mit der Bedrohung vor – was früher die Flucht vor dem Tiger ermöglichte, ist heute beim Öffnen des E-Mail-Postfachs eher hinderlich. Trifft die Person auf den Stressor, kommt es zu einer ersten Aktivierung des Sympathischen Nervensystems (Sympathikus), was unter anderem zu einer Erhöhung des Blutdrucks und des Herzschlags sowie zur Freisetzung der Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin führt. Der Körper befindet sich nun in einem Zustand der höchsten Alarm- und Leistungsbereitschaft. Neben dem Sympathikus wird in vielen Fällen auch die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse aktiviert, welche u. a. für die Freisetzung des Stresshormons Cortisol verantwortlich ist. Ist die Stresssituation abgeklungen, aktiviert sich der Gegenspieler des Sympathikus – der Parasympathikus (das Parasympathische Nervensystem). Dieses sorgt dafür, dass sich der Körper wieder entspannt, der Herzschlag verlangsamt und der Blutdruck sinkt. Darüber hinaus hat Stress komplexe Effekte auf das Immunsystem, wie sich insbesondere an einer Aktivierung von Entzündungsprozessen zeigt.
Kurzfristig kann eine Aktivierung des Sympathikus, der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und des Entzündungssystems zu erhöhter Leistungsbereitschaft und/oder Widerstandsfähigkeit führen. Langfristige Überaktivierungen können allerdings ein ernsthaftes Gesundheitsrisiko darstellen und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, an Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magengeschwüren oder Diabetes Typ-2 zu erkranken.
Stressor = Stressreaktion?
Geprägt hat die systematische Erforschung von Stressreaktionen der Wissenschaftler Hans Selye, welcher in den 1940er-Jahren die Ausgangsthese formulierte, wonach alle Stressoren dieselben körperlichen Reaktionen auslösen. Mittlerweile wurde diese These zur Spezifizitäts-Theorieerweitert, wonach Stressreaktionen spezifisch auftreten, abhängig von den Eigenschaften des Stressors. Darüber hinaus hängt es von der persönlichen Bewertung der Situation ab, zu welcher Form der biologischen Stresssituation es kommt (transaktionales Stressmodell von Richard Lazarus). Während es in bedrohlichen Situationen (threat) häufig zur Ausschüttung des Stresshormons Cortisol kommt, führen Herausforderungen (challenge) eher zu Aktivierungen des Sympathikus. Zudem konnte gefunden werden, dass vor allem Stressoren bei denen man von anderen Menschen bewertet oder beurteilt wird (wie zum Beispiel in Bewerbungsgesprächen) zu einer verstärkten Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und damit zu einer vermehrten Ausschüttung des Stresshormons Cortisol führen.
Die biologische Stressreaktion am Beispiel von Multitasking und Arbeitsunterbrechungen
Zu welchen spezifischen biologischen Stressreaktionen es bei (digitalem) Multitasking und Arbeitsunterbrechungen kommt, war die zentrale Fragestellung in den Teilprojekten B04 und B05. Die biologischen Effekte von digitalem Stress wurden bis dato noch wenig erforscht.
In einer von den beiden Teilprojekten gemeinsam durchgeführten umfangreichen Literaturübersichtsarbeit (sog. Systematic Review) wurde gefunden, dass Multitasking – im Vergleich zum Durchführen von nur einer Aufgabe – zu einem Anstieg der Aktivität des Sympathischen Nervensystems führt. Gleichzeitig wird die Aktivität des Parasympathischen Nervensystems herunterreguliert. Diese Effekte sind unter anderem über Veränderungen im Elektrokardiogramm (Aufzeichnung der Aktivität des Herzens) messbar.
Da Arbeitsstress typischerweise länger anhält, wurden mögliche chronische und biologische Effekte von digitalem Stress in einer Längsschnittstudie im Gesundheitswesen durch die Teilprojekte B04 und B05 erforscht. Speziell wurde untersucht, inwiefern digitaler Stress mit längerfristigen Veränderungen in den menschlichen Stresssystemen zusammenhängt. Hierfür wurde die Cortisol-Konzentration im Haar sowie mögliche Entzündungsreaktionen im Blut der Studienteilnehmenden als Marker für eine chronische Stressbelastung gemessen. Chronische unterschwellige Entzündungsprozesse im gesamten Körper spielen eine zentrale Rolle in der Entstehung moderner Zivilisationskrankheiten, wie Herz-Kreislauf-, metabolische und neurodegenerative Erkrankungen, Krebs und Depression.
Das Wichtigste auf einen Blick:
- Bei einer Stressreaktion werden physiologische Systeme aktiviert, welche die Information, dass Stress erlebt wird, vom Gehirn an den Körper vermitteln. Diese Systeme sind das Sympathische Nervensystem sowie in vielen Fällen auch die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und das Immunsystem.
- Stressreaktionen sind spezifisch und hängen mit den Eigenschaften des Stressors sowie der persönlichen Bewertung der Situation zusammen.
- Chronische Veränderungen in den menschlichen Stresssystemen sind ein wichtiges Bindeglied im Zusammenhang zwischen (digitalem) Stress und der Entstehung schwerer Erkrankungen.